Die angedeutete Mauer im Hintergrund der Bühne des Förnbacher Theaters im Badischen Bahnhof ist verwittert, die Tafel mit den Abfahrtszeiten der Züge ist kaum lesbar, zum Sitzen dient eine abgenutzte Bank. Wir sind in Güllen, der Kleinstadt, deren provinzieller Ruhm längst zerfallen ist.
Aber die Güllener motzen ihr verarmtes Leben auf, tragen neue Schuhe, die Gemeinde bekommt neue Computer, der Sohn des Krämers Alfred III spielt Tennis - alles auf Pump. Anstelle der Mauer erscheint bald ein gläsernes Hochhaus, Symbol für prosperierende Wirtschaft. Und Ill kommt fast um vor Angst. Der Reichtum, auf den die Bürger unvermutet hoffen, stammt von der Milliardärin Claire Zachanassian, die aus dem Ort stammt.
Sie fordert für die Milliarde, die sie ihrem Heimatort schenken will, Gerechtigkeit. Den Tod des Krämers, der sich einst als Vater ihres Kindes verleugnete und sie ins Unglück stiess. Diese «Gerechtigkeit» wird zum Deckmantel für die Gier auf ein besseres Leben. Wir sind tief in Güllen.
In der Neuinszenierung von Friedrich Dürrenmatts «tragischer Komödie» von 1955 tritt die grausame Fabel klar hervor. Ohne Schnickschnack, ganz auf den - gekürzten - Text fokussiert. Regisseur Helmut Förnbacher hat das Personal verkleinert; fünf der neun Darstellerinnen und Darsteller spielen mehrere Figuren. Das Bühnenbild (Wolf Gross) scheint das karge Leben in Güllen zu spiegeln, minimale Mittel und kluge Beleuchtung genügen, um den Mief der Kleinstadt zu zeichnen, verschiedene Schauplätze anzudeuten.
Mittendrin zieht Kristina Nel als «alte Dame» ihre Fäden, stolz, kalt, aalglatt im Seidenkleid und mit unbeweglichem Gesicht hinter ihrer Sonnenbrille, mit überlegener Sprache, gegen deren Überzeugungskraft niemand ankommt. Sie strahlt Macht aus, die ihr jede Extravaganz erlaubt und eben auch ermöglicht, das zu kaufen, was sie Gerechtigkeit nennt.
Sie geht ein wenig steif, nur der Gang verrät die Beinprothese - fabelhafter Einsatz von Körperbeherrschung und Körperspiel -‚ diese Rachegöttin Klara braucht keine Sänfte. Nur wenn sie vom früh verstorbenen Kind spricht, mit dem sie der einstige Geliebte Ill sitzen gelassen hat, verrät sie Menschlichkeit, einen Anflug von Trauer. Und da wird auch klar, dass sie nicht einzig an III Rache nimmt, sondern an ganz Güllen. Ill ist Opfer und Instrument.
Dieter Mainka ist zuerst der mickrige, verlogene Ill, der noch glaubt, seinen alten Charme bei Klara einsetzen zu können, dann jammerndes Elend - beklemmend und gespenstisch ruhig ist die Szene am Bahnhof, wenn Güllens gute Bürger ihn nicht einsteigen, nicht fliehen lassen. Doch dann wird er gross, erkennt seine Rolle im bösen Spiel und geht in den Tod. Absolut sehenswert, wie er reglos Kuss und Abschied seiner Gattin (Caroline Felber, sie spielt auch die Ärztin) über sich ergehen lässt.
In die übrigen Rollen der dumpfen Güllener und des Claire-Gefolges teilen sich Helmut Förnbacher, Hanspeter Stoll, Percy von Tomëi, Philipp Steiner, Matthias Zelazko und Reto Ziegler. Letztere sind auch als komisches blindes Eunuchenpaar Koby und Loby, die bestochenen Zeugen, zu sehen, das etwas mehr sprachliche Präzision vertragen könnte - wie manche anderen chorisch gesprochenen Stellen auch - sowie mehr Ausdruckskraft im schwarzen Humor.
Eingehüllt in melancholische Akkordeonmusik wird so Dürrenmatts Text, der Qualitäten der makabren Groteske, des Stationendramas und der griechischen Tragödie in sich vereint, lebendig. Zusätzlicher Reiz geht vom Spielort, dem Badischen Bahnhof, aus, wo nicht nur Eisenbahngeräusche von der Tonaufnahme zu hören sind, sondern auch mal ein echter Zug vorbeirumpelt - und das erst noch zur richtigen Zeit.
Thomas Waldmann