Ein großer Spiegel, ein schwarzer Stuhl, ein Stapel alter Bücher – mehr braucht es nicht. Ein Mann betritt die Bühne, vergräbt sich in das Studium der Bücher. Es ist Faust, der an der Wissenschaft zweifelt und verzweifelt, erfahren will, was die Welt im Innersten zusammenhält, und sich der Magie zuwendet. Faust erblickt sich verzerrt im Spiegel, Stimmen ertönen aus dem Off, Geister sprechen aus dem Spiegel, Figuren erscheinen als Projektion im Spiegel.
Das Spiegel-Motiv spielt eine wichtige Rolle in der neuen "Faust"-Inszenierung im Förnbacher Theater im Badischen Bahnhof Basel. Helmut Förnbachers Neudeutung des Goethe-Klassikers ist sehr modern geraten, geistreich und zeitgemäß. Extrem reduziert ist das Bühnenbild, der Bühnenraum fast leer bis auf wenige Requisiten, was zu dieser Inszenierung passt. Denn sie konzentriert sich auf die wesentlichen Figuren und Konflikte, auf das zentrale Motiv: die zwei Seelen, die in Fausts Brust wohnen, und die tragische Liebesgeschichte zwischen Faust und Gretchen.
Die Figuren wirken sehr heutig, lebensnah in ihren Zweifeln, ihrem Streben, ihrem Hin-und-Her-Gerissensein zwischen teuflischen Versuchungen, sinnlichen Gelüsten und dem Drang nach höherer Erkenntnis. Förnbachers Interpretation geht dahin, dass Faust und Mephisto eigentlich eine Person sind. Also werden der Gelehrte und der diabolische Verführer von ein und demselben Darsteller gespielt – von Förnbacher selbst. Durch das raffinierte Spiel mit dem Spiegel-Bild wird das Moment der Verwandlung sinnfällig gemacht. Eine interessante Regie-Idee ist es, dass der Faust gleich doppelt besetzt ist: mit Förnbacher als älterem, grübelnden, haderndem Faust, der die Summe des lebenslangen Studierens zieht, und mit Falk Döhler als jungem Faust. Im Stück wird Faust in der Hexenküche verjüngt, hier tritt der verjüngte Faust hinter dem Spiegel hervor: ein gut aussehender junger Mann im eleganten schwarzen Anzug mit weißem Schal. Genau dieselbe Kleidung trägt Mephisto, den Förnbacher als weltläufigen Zyniker spielt – kein dämonischer Teufel, sondern ein hintergründig charmanter Manipulator. Döhler als junger Faust spielt wunderbar frisch und stürmisch, er ist ein smarter junger Mann, hin und her geworfen im Taumeln zwischen Begierde und Genuss und Gefühlen für Gretchen. Dora Balog als Gretchen ist mehr junge Frau, aber sie verkörpert glaubhaft das reine unschuldsvolle Wesen. Balog verkörpert eindringlich Gretchens Tragödie, wenn sie im weißen Gewand durch die Hexenszene geistert und in der letzten Szene als eingekerkerte Kindsmörderin alle verwirrte Seelenqual ausdrückt. Herausragend im Faust-Ensemble auch Kristina Nel als Frau Marthe, eine mit französischem Akzent parlierende Madame, die im Spaziergang mit Mephisto ihre kupplerischen Geschicke anbringt.
Das studentische Saufgelage in Auerbachs Keller wird in Förnbachers Version zu einem Ausflug ins Barmilieu: Bunte Glühbirnchen, eine platinblonde Dame auf dem Barhocker verlocken Faust zu einem Ausflug ins Vergnügungsviertel. Das Ewig-Weibliche lockt auch in Gestalt eines lebensgroßen Frauenaktes im Stil von Helmut Newtons "Nudes", projiziert an die Bühnenwand und auf den Spiegel. Beim grotesk-orgiastischen Hexenspuk in der Walpurgisnacht tauchen Dominas in Leder auf, und als Projektion erscheinen Zeichnungen des Dresdner Künstlers Holger John: ein erotisches Satyricon, ein Panoptikum bizarr-surrealer Figuren, reitender Hexen, lüsterner Gestalten, die wie Visionen eines modernen Hieronymus Bosch wirken.
Roswitha Frey