Im Programmheft zu Dürrenmatts „Der Besuch der alten Dame“ finden sich noch drei Namen unter der Rubrik „Live-Camera“. Offensichtlich hat Helmut Förnbacher vorgehabt, aufwändige filmische Mittel einzusetzen – was bei einem so ausgewiesenen Film- und Theaterregisseur nicht verwunderlich wäre. Er hat sich dann doch dagegen entschieden, verzichtet auf modernistische Regie-Elemente und setzt ganz auf die Dürrenmattsche Sprache. Damit favorisiert Förnbacher eine schulgerechte, aufs Wort ausgerichtete Deutung dieses „bösen Stücks“. Allein der Besuch von drei Schulklassen bei der Premiere in der Theaterhalle im Badischen Bahnhof Basel gibt ihm da wohl recht. Noch immer ist die „Alte Dame“ eines der wichtigsten literarischen Themen auf den Lehrplänen. Was Dürrenmatt in dieser „tragischen Komödie“ abhandelt, einem der gewichtigsten Stücke des 20. Jahrhunderts, gilt heute wie damals. Die Korrumpierbarkeit der Kleinstädter, die Versuchung durch das Geld – Dürrenmatts banale Wahrheit: „Mit Geld lässt sich alles kaufen“ – daraus kann man noch heute Lehren ziehen.
Was erwartet nun der Theatergänger von der Darstellerin der alten Dame auf der Bühne" Zumindest, dass sie überhaupt auftaucht, persönlich. Im Gegensatz zur alten Dame im Basler Theater in der vergangenen Saison, die nur akustisch über die Stimme präsent war und wo viel mit Video gearbeitet wurde. Förnbacher setzt stattdessen auf klassisches Sprechtheater, auf starke und effektvolle theatralische Mittel wie antike Chöre, die er in dieser Neuinszenierung im Gegensatz zu seiner langjährigen Produktion mit Suzanne Thommen verdichtet. Und er richtet den Fokus auf Kristina Nel in der Titelrolle, die stark im Scheinwerferlicht erscheint, einer antiken Schicksalsgöttin gleich, unnahbar, kalt, zynisch. Eine bedenkenlose Frau, sitzengelassen und enttäuscht, die aus Rache eine Milliarde als Kopfgeld auf ihren Ex-Geliebten aussetzt. Starke Dialogmomente finden statt zwischen dieser Claire Zachanassian und ihrer Jugendliebe Alfred Ill (als einst „beliebtester Bürger“ zerknirscht in die Opferrolle des Verfolgten gedrängt: Dieter Mainka).
Fast schon kabarettistische Momente gibt es auf dem Balkon zwischen Claire und ihrem Kurzzeit-Ehemann, dem Filmstar (mit ungewohnt Wienerischem Dialekt: Helmut Förnbacher), wenn sie ihre Beinprothese sucht, um sich wieder komplett zu montieren. Eindrückliche Szenen ergeben sich zwischen Bürgermeister (Hanspeter Stoll), Lehrer (Percy von Tomëi) und Pfarrer (Philipp Steiner), die plötzlich alle neue gelbe Schuhe tragen bei der verlockenden Aussicht auf Wohlstand. Dürrenmatt hat ja einmal behauptet, unserer Zeit komme nur noch die Komödie in Form der Groteske bei. Und grotesk, fast schon Beckettsche Figuren, sind die beiden Eunuchen Koby und Loby, kastriert und geblendet (fabelhaft synchron: Matthias Zelazko und Reto Ziegler). Diese Inszenierung schafft es also auch ohne filmische Ablenkung durch neue Medien, die Theaterfantasie anzuregen, mit einer Mischung aus Kriminalstück, Allegorie, Kabarett und antiker Tragödie.
Seinem Regiestil bleibt Förnbacher treu bis hin zu der Szene, wo die Güllener eine Gasse für Ill bilden – die Ärztin diagnostiziert „Herzschlag“ – und dem Schlusschor als letzter Entlarvung der reich gewordenen Kleinstädter. Ganz nach Dürrenmatts sarkastischer Aussage: „Konjunktur für eine Leiche“.
Jürgen Scharf