André sucht seine Armbanduhr. Hat die Pflegerin sie gestohlen" André ist 80, Witwer, Vater von zwei Töchtern. André hat Demenz, was heute weit verbreitet ist. Er nennt es verzweifelt „kleine Löcher im Gedächtnis“. Eigentlich ist André ein charmanter alter Herr, aber er kann auch sarkastisch werden. Am Vorabend des Welt-Alzheimer-Tages hat die Helmut Förnbacher-Theater Company in der Theaterhalle im Badischen Bahnhof dem Demenz-Stück „Der Vater“ des jungen französischen Dramatikers Florian Zeller zur Schweizer Erstaufführung verholfen. Der Trick bei diesem erfolgreichen Alzheimer-Drama ist, dass der Autor den geistigen Abbau des Vaters aus der Perspektive des Dementen beschreibt, also nicht aus dem Blickwinkel der Angehörigen und auch nicht aus der Sicht des Publikums. Das ist zunehmend verwirrend, denn es tauchen Figuren in der Wohnung auf, die André nicht erkennt. Wer sind überhaupt diese unsympathischen Typen (Percy von Tomei, Kristina Nel, Lothar Hohmann, Lea-Sina Bühler) und was haben sie in seinem Wohnzimmer zu suchen" Auch der Zuschauer weiß bei den verschachtelten Szenen bald selber nicht mehr, was stimmt oder was Halluzination und Einbildung ist. Die Titelfigur ist eine sehr dankbare Rolle für ältere Schauspieler. Volker Lechtenbrink hat sie in der deutschen Erstaufführung gespielt, Peter Striebeck verkörpert sie in einer neuen Tourneeproduktion. In Basel ist „Der Vater“ der Abend von Helmut Förnbacher. Zuerst kommt er im eleganten Anzug auf die Bühne. Ein Charmeur. Wenn er von seiner Karriere als Stepptänzer erzählt, ahnt man, dass das nicht stimmen kann. Wenn er später im feinen Zwirn des Morgenmantels oder im seidenen Pyjama erscheint, sind die Stadien seiner Krankheit und der Persönlichkeitsverlust schon fortgeschrittener. Wir erleben die ganze Gefühlsskala eines Menschen mit Erinnerungslücken, Orientierungslosigkeit und Angstzuständen, der immer noch Humor und Witz hat, dennoch seine Tochter und Pflegerin tyrannisiert. André kann aber auch unendlich traurig wirken, wenn er aus Verzweiflung weint. Es sind die vielen kleinen Gesten des Verwirrtseins, die in Helmut Förnbachers Rollensicht berühren. Er bringt das Verlorensein und das Kindliche rüber, wenn er mit dem Globus wie mit einem Ball spielt und wieder zum Kind wird, oder wenn er am Fenster steht und lethargisch ins Leere blickt: eine intensiv gespielte Charakterstudie. Als zweite Hauptfigur wird Tochter Anne eingeführt, von Kristina Malyseva sehr sensibel und auf Augenhöhe gespielt. Die Neue im Ensemble stellt die Konflikte dieser Figur zwischen Sorge um den Vater und dem eigenen Leben eindrücklich und überzeugend dar. Verena Buss inszeniert den Vater-Tochter-Konflikt nicht klinisch. Bei ihr wird Alzheimer zum Bühnenspiel, sie bringt keine sterile medizinische Krankengeschichte auf die Bühne. Wir sind nicht in der Psychiatrie, sondern im Theater, wo man neben dem Betroffenheitsgebot auch lachen darf. Mit eigenen Fotos aus Paris, Videoprojektionen und passender Hintergrundmusik setzt die Regisseurin, die mit dem Surrealen, Phantastischen der französischen Schauspieltradition umzugehen versteht, gekonnt szenische Akzente. Und wie sie die Personen führt, nicht nur in den berührenden und beklemmenden Szenen, sondern auch mit befreienden Momenten des Lachens und der Komik, das geht unter die Haut.
Jürgen Scharf